Sicherheitskultur – ein notwendiger Abschied? Handeln und entscheiden in unsicheren Zeiten

I. Phänomene

Organisationen und Institutionen stehen gegenwärtig vor Strukturveränderungen. Angesichts der Ungewissheiten durch die einreisenden Flüchtlinge schrecken viele vor Veränderungen im eigenen Umfeld zurück.
Die Sicherung des Gewohnten hat offenbar auch in weiten Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft Priorität: ‚Zäune bauen‘, Transitzonen einrichten, diese Lösungsmodell, durch die Ordnung wieder hergestellt und Ungewisses ‚interniert‘ wird, wird als selbstverständliches Gebot der Stunde gesehen. Das sind Phänomene kollektiver Abwehr, vergleichbar mit den Immunisierungsstrategien des Mittelalters, bei denen die Kranken vor die Tore der Stadt gebracht wurden. Der Rückzug in den vermeintlich sicheren Raum, die Vermeiden von Öffnungen, die Reduktion auf das kleine ‚Wir‘, das sind Reaktionen, die neben der Hilfsbereitschaft und dem Engagement von vielen für die Flüchtlinge stehen.

Leider viel zu oft transformiert sich die Abwehrhaltung in Aggression: Lautstarke Demonstrationen, Gewalt gegen Unterkünfte für Asylsuchende.
II. Sicherheitskultur

Manche meinen bei uns einen Mangel zu sehen in der Fähigkeit, zwischen realer und gefühlter Bedrohung zu unterscheiden.
Wir befinden uns bei Licht besehen seit mehr als 100 Jahren in einer gesellschaftlichen Phase, in der der individuellen Lebensführung die kulturellen Rahmungen abhandenkommen und sich keine neuen verlässlichen Bezugspunkte der individuellen und kollektiven Lebensbewältigung herausbilden.

Ein erstes Zwischenfazit könnte nach dieser kulturellen Fühlungnahme also lauten: wir sind in Deutschland offenbar weniger gut geübt im Umgang mit Unsicherem. Und die Rede von der Notwendigkeit, unsere kulturelle Identität zu bewahren, kann angesichts der Migrationsbewegungen nach Deutschland, mit der Vermutung verbunden werden, dass unsere Gesellschaft in der Tiefe von einer eher labilen als stabile Kultur getragen wird. Insofern ist die Flüchtlingsthematik eher ein Indikator für die innere Verfasstheit unserer Gesellschaft.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Bevölkerung durch „fürsorgliche“ Sicherungsmaßnahmen zur Loyalität mit der schwach verankerten Demokratie und zur Beteiligung am Wiederaufbau des Landes motiviert. In der Folge dieser „fürsoglichen Belagerung“ stellten sich Fehlhaltungen ein, wurden doch die Erwartungen an staatlich garantierte Sicherheitsstandards maßlos erhöht. Die Fähigkeiten zu verantwortlicher Selbstsorge und Risikobereitschaft blieben unterentwickelt. Vor allem aber wurden Vergewisserungserfahrungen jenseits des bestimmenden Kulturmodells mit fatalen Folgen für die Seele der Menschen vernachlässigt. Darin liegen langfristige Erschwernisse beim Umbau des Sozialstaates, außerdem lassen sich die Hintergründe der depressiven Abwehr gegen den Strukturwandel der Gesellschaft in einer globalisierten Welt aus dieser Perspektive einordnen.

Hinweis:
Auf Wunsch kann der vollständige Text zur Verfügung gestellt werden

Gesundheitspolitik zwischen Risikoabwehr und Ressourcenförderung

Die politischen Diskurse über Gesundheitsfürsorge auf internationaler, europäischer und nationalstaatlicher Ebene reflektieren gegenwärtig erstens den umfassenden Strukturwandel in postmodernen Gesellschaften. Die aus diesen politischen Prozessen erwachsenen Leitlinien, Gesetze und Modelle sind zweitens als Versuch anzusehen, ein neues Paradigma von Gesundheitsvorsorge zu verankern, das den Veränderungen der Arbeitswelt Rechnung trägt. Drittens spiegeln diese Konzepte von Public Health die gewandelten Strategien politischer Steuerung. Schließlich bildet sich hier viertens ein verändertes Verständnis von Subjektivität und der Beziehung der Individuen zu staatlichem Handeln und zur beruflichen Tätigkeit ab.

Deutlicher als das deutsche Wort ‚Gesundheit‘ offenbart der englische Begriff ‚well-being‘ die Reichweite und den Kategorienwechsel, der hier angebahnt wird: Im Namen von gutem kollektiven Leben und von umfassender individueller Gesundheit werden politische Strategien und Interventionen entwickelt.

Diese politischen Modernisierungsprozesse müssen notwendigerweise spannungsvoll sein, weil unterschiedliche Traditionen, Interessen und Leitvorstellungen aufeinander treffen. Der Begriff Gesundheitsvorsorge lässt das überkommene sozialstaatliche Modell anklingen, das durch staatliche Garantien für die Unversehrtheit von Leben der Bevölkerungen auf der einen Seite und ordnungspolitischen Motiven auf der anderen Seite geprägt ist.

Die Rechtsvorschriften zur Gesundheitsvorsorge in Deutschland speisen sich nach wie vor aus den Arbeitsschutzrichtlinien und sind damit auf die Verhütung von Unfällen und Erkrankungen durch die Arbeitsbedingungen gerichtet. Hier steht der Risikoaspekt im Vordergrund. Wie können Gesundheitsfürsorge und ökonomische Rationalität in Einklang gebracht werden? Allein dadurch, dass der Betrieb als Handlungsfeld von Gesundheit und Arbeitsschutz entwickelt wird?

Die Grundgedanken von Salutogenese durchziehen die politischen Diskurse über Gesundheit auf internationaler und nationaler Ebene seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Antonovskys Konzept ist nur indirekt in politische und rechtliche Vorgaben eingeflossen. Die Einsichten von Salutogenese speisen sich aus unterschiedlichen Quellen und verbinden sich heute in Gestalt der Gesundheitsfürsorge besonders mit dem beruflichen Feld. In dieser Verschiebung des Focus spiegelt sich jedoch eine Grundeinsicht von Salutogenese: Gesundheitsförderung ist eingebettet in die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte.

Ein Handlungskonzept für diese integrativen und lebensraumbezogenen Ansätze der Gesundheitsförderung liegt im „Haus der Arbeitsfähigkeit“ des finnischen Arbeitsforschers Ilmarinen vor. Es bildet die Faktoren ab, die die Arbeitsfähigkeit eines Menschen bestimmen. Dazu gehören die persönliche Umwelt und die familiären Bindungen.

Ein solches, konsequent und umfassend am Lebenskontext orientiertes Handlungskonzept von Gesundheitsförderung, passt allerdings nicht in den politischen Zielkorridor, weil damit staatliche Interventionen relativiert werden.

Die Ernüchterungen, die in der gemeinwesenorientierten Gesundheitsförderung in der Folge der Ottawa-Charta und in der zögerlichen Aufnahme betrieblicher Gesundheitsförderung in der Umsetzung der EU-Richtlinie Arbeitsschutz eingetreten sind, machen solche Vorbehalte verständlich. Gleichwohl könnte eine solche Gesundheitsförderung differenzierter auf die komplexen und dynamischen Umweltbedingungen reagieren. Sie ist zugleich gefahren- und risikoorientiert, zugleich bezogen auf staatlichen Vorgaben und konkrete betriebliche Rahmenbedingungen, sieht das Individuum in seiner biographischen Besonderheit und in seinem sozialen Umfeld. Und dieses alles vollzieht sich in dauernder Interaktion. Gesundheitsförderung wird wirksam sein, wenn sie eine Wahrnehmung dieser bedingenden Zusammenhänge hat und konsequent relational arbeitet. Eine solche Gesundheitsförderung, die auf die Kontingenzen achtet, versteht Leben weniger absolut und weniger planbar.

In den politischen Diskursen wird solchen Vorschlägen tendenziell skeptisch begegnet, weil im internationalen, europäischen und deutschen System von Public Health immer noch ein universalistischer Restanspruch von Politik und eine essentielle Vorstellung von Leben und Gesundheit zu bemerken sind.

Hinweis:

Der vollständige Text ist erschienen in: Salutogenese, Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer, Klaus Raschzok (Hrsg.), Leipzig 2015