Die politischen Diskurse über Gesundheitsfürsorge auf internationaler, europäischer und nationalstaatlicher Ebene reflektieren gegenwärtig erstens den umfassenden Strukturwandel in postmodernen Gesellschaften. Die aus diesen politischen Prozessen erwachsenen Leitlinien, Gesetze und Modelle sind zweitens als Versuch anzusehen, ein neues Paradigma von Gesundheitsvorsorge zu verankern, das den Veränderungen der Arbeitswelt Rechnung trägt. Drittens spiegeln diese Konzepte von Public Health die gewandelten Strategien politischer Steuerung. Schließlich bildet sich hier viertens ein verändertes Verständnis von Subjektivität und der Beziehung der Individuen zu staatlichem Handeln und zur beruflichen Tätigkeit ab.

Deutlicher als das deutsche Wort ‚Gesundheit‘ offenbart der englische Begriff ‚well-being‘ die Reichweite und den Kategorienwechsel, der hier angebahnt wird: Im Namen von gutem kollektiven Leben und von umfassender individueller Gesundheit werden politische Strategien und Interventionen entwickelt.

Diese politischen Modernisierungsprozesse müssen notwendigerweise spannungsvoll sein, weil unterschiedliche Traditionen, Interessen und Leitvorstellungen aufeinander treffen. Der Begriff Gesundheitsvorsorge lässt das überkommene sozialstaatliche Modell anklingen, das durch staatliche Garantien für die Unversehrtheit von Leben der Bevölkerungen auf der einen Seite und ordnungspolitischen Motiven auf der anderen Seite geprägt ist.

Die Rechtsvorschriften zur Gesundheitsvorsorge in Deutschland speisen sich nach wie vor aus den Arbeitsschutzrichtlinien und sind damit auf die Verhütung von Unfällen und Erkrankungen durch die Arbeitsbedingungen gerichtet. Hier steht der Risikoaspekt im Vordergrund. Wie können Gesundheitsfürsorge und ökonomische Rationalität in Einklang gebracht werden? Allein dadurch, dass der Betrieb als Handlungsfeld von Gesundheit und Arbeitsschutz entwickelt wird?

Die Grundgedanken von Salutogenese durchziehen die politischen Diskurse über Gesundheit auf internationaler und nationaler Ebene seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Antonovskys Konzept ist nur indirekt in politische und rechtliche Vorgaben eingeflossen. Die Einsichten von Salutogenese speisen sich aus unterschiedlichen Quellen und verbinden sich heute in Gestalt der Gesundheitsfürsorge besonders mit dem beruflichen Feld. In dieser Verschiebung des Focus spiegelt sich jedoch eine Grundeinsicht von Salutogenese: Gesundheitsförderung ist eingebettet in die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte.

Ein Handlungskonzept für diese integrativen und lebensraumbezogenen Ansätze der Gesundheitsförderung liegt im „Haus der Arbeitsfähigkeit“ des finnischen Arbeitsforschers Ilmarinen vor. Es bildet die Faktoren ab, die die Arbeitsfähigkeit eines Menschen bestimmen. Dazu gehören die persönliche Umwelt und die familiären Bindungen.

Ein solches, konsequent und umfassend am Lebenskontext orientiertes Handlungskonzept von Gesundheitsförderung, passt allerdings nicht in den politischen Zielkorridor, weil damit staatliche Interventionen relativiert werden.

Die Ernüchterungen, die in der gemeinwesenorientierten Gesundheitsförderung in der Folge der Ottawa-Charta und in der zögerlichen Aufnahme betrieblicher Gesundheitsförderung in der Umsetzung der EU-Richtlinie Arbeitsschutz eingetreten sind, machen solche Vorbehalte verständlich. Gleichwohl könnte eine solche Gesundheitsförderung differenzierter auf die komplexen und dynamischen Umweltbedingungen reagieren. Sie ist zugleich gefahren- und risikoorientiert, zugleich bezogen auf staatlichen Vorgaben und konkrete betriebliche Rahmenbedingungen, sieht das Individuum in seiner biographischen Besonderheit und in seinem sozialen Umfeld. Und dieses alles vollzieht sich in dauernder Interaktion. Gesundheitsförderung wird wirksam sein, wenn sie eine Wahrnehmung dieser bedingenden Zusammenhänge hat und konsequent relational arbeitet. Eine solche Gesundheitsförderung, die auf die Kontingenzen achtet, versteht Leben weniger absolut und weniger planbar.

In den politischen Diskursen wird solchen Vorschlägen tendenziell skeptisch begegnet, weil im internationalen, europäischen und deutschen System von Public Health immer noch ein universalistischer Restanspruch von Politik und eine essentielle Vorstellung von Leben und Gesundheit zu bemerken sind.

Hinweis:

Der vollständige Text ist erschienen in: Salutogenese, Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer, Klaus Raschzok (Hrsg.), Leipzig 2015